GOTT IN INDIEN

Hat Indien einen anderen Gott als der Westen? Die Frage nach Gott ist in Indien lebendig und omnipräsent. Maria Wirth über das Gottesbild der Inder und warum indische Christen gerne Hindus bekehren wollen und nicht umgekehrt

»Vergiss Gott nicht«, so riet mir in Delhi einmal Rajesh, ein Bekannter, zum Abschied: Es überraschte mich, dass ein junger, erfolgreicher Mann so selbstverständlich und frei über Gott redete, und ich fragte mich, was er wohl damit meinte. Ich war damals neu in Indien und wusste nicht, dass Gott in diesem Land noch lebendig ist. Später, in der Umgebung von Devaraha Baba und Anandamayi Ma, habe ich gemerkt, wie lebendig er ist, und welch große Rolle er im Alltag der Inder spielt. Im Gegensatz dazu erscheint er im Westen relativ tot. Natürlich gehen dort am Sonntag Leute immer noch in die Kirche, aber im Alltag spielt Gott für die Wenigsten eine Rolle, außer vielleicht, wenn man etwas dringend will und ihn darum bittet oder gar anfleht.

Ich hatte den Eindruck, dass Indien einen anderen Gott hat als der Westen, wenn ich das so ausdrücken kann. Der Begriff steht hier nämlich nicht für ein großartiges Wesen, das von den Menschen getrennt ist. Der Begriff steht vielmehr für das Ganze, für die Einheit, die Basis von allem, unser ureigenes Selbst, für Das, was wirklich ist, bzw. nicht ist, denn es lässt sich nicht fassen, nicht anschauen. Es handelt sich sozusagen um einen wissenschaftlichen Gott, um philosophisches Denken, eine Analyse der Wahrheit  – und ist deshalb für jeden, auch für Wissenschaftler, akzeptierbar.

Das heißt jedoch nicht, dass nicht auch der Inder an einen persönlichen Gott denkt, wenn er sein „Hey Bhagavan!“ ausruft. Er mag sich an Ram, Krishna, Shiwa, Ganesha, Devi wenden, je nachdem wen er als seinen Ishta Deva bzw. Lieblingsgott verehrt. Doch im Hinterkopf weiß er, dass alle diese Götter Aspekte vom Einen sind. Er hat deshalb nichts dagegen, wenn jemand Jesus verehrt oder Allah anruft, und kommt nicht auf die Idee andere zu ‚bekehren’.

Seit mir Rajesh damals den Rat gab, wollte ich mir selber über Gott klar werden, ohne auf Bücher zurückzugreifen. Mehrere Monate später nahm ich mir schließlich in Dehradun die Zeit dazu. Ich setzte mich nachts regelmäßig auf die Dachterrasse unter dem Sternenhimmel mit dem Himalaya im Rücken und stellte mir gezielt Fragen. Meine Gedanken verliefen sich zwar oft in andere Richtungen, doch wenn ich es merkte, brachte ich sie zur Frage zurück. Ich wartete einfach nur, manchmal lange, und es kamen Antworten. Natürlich hatte ich inzwischen viel über indische Weisheit gelesen. Dennoch waren es meine eigenen Antworten. Und es überraschte mich nicht, dass sie im Einklang mit der indischen Weisheit waren:

„Was verstehe ich unter Gott?“
„Das, was wirklich existiert, die Basis von allem, ewig, unabhängig, formlos, bewusst und mächtig.“

„Gott muss also definitiv hier sein. Warum sehe ich ihn nicht?“
„Weil er nicht etwas von mir Getrenntes ist, das ich anschauen könnte. Es ist vielmehr das, was aus meinen und aus allen Augen herausschaut.“

„Wie kann ich ihm also nahe kommen?“
„Ich bin ihm nahe, so nah, dass es nicht näher geht.“

„Aber ich spüre es nicht. Warum?“
„Weil Gedanken, Gefühle und Vorstellungen meine Aufmerksamkeit voll in Besitz nehmen und Das, was Gedanken, Gefühle und Vorstellungen überhaupt möglich macht, verhüllen.“

„Was kann ich tun, damit Gedanken und Gefühle aus dem Weg gehen?“
„Mir bewusst sein, dass es Gedanken und Gefühle sind, sie einfach nur beobachten, nicht beurteilen, sie nicht so ernst nehmen, mich nicht damit identifizieren.“

„Wer bin ich eigentlich?“
„Im Innersten eins mit Gott.“

„Was heißt das?“
„Ich bin nicht lokalisierbar, nicht objektivierbar, nicht veränderbar, ohne Form, reines, stilles bewusstes Sein. Ich bin einfach.“

„Und was ist mit meinem Leben, wenn ich mich auf Gott hin ausrichte?“
„Das läuft von allein weiter. Darum brauche ich mich nicht zu sorgen, sofern ich mich ehrlich auf Gott/Mich hin ausrichte.“

Source: http://wpold.yoga-aktuell.de/ck17-yoga-main/ck33-spirituelles-leben/gott-in-indien/

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