Arbeiten mit der eigenen Fluchterfahrung

Unterschiedliche Perspektiven auf das Thema Flucht: Senthuran Varatharajah (l.) hat ein Buch über Flucht geschrieben, sein Bruder Sinthujan beschäftigt sich aus architektonischer Sicht mit dem Thema. (Holm-Uwe Burgemann / Sergen Yener (Combo: Deutschlandradio)

Ihre Familie ist tamilisch und in den 80er-Jahren aus Sri Lanka nach Deutschland geflohen: Senthuran Varatharajah hat einen Roman über Fluchterfahrungen geschrieben, sein Bruder Sinthujan erforscht die Architektur von Flüchtlingsheimen. Ihre Sicht ist höchst unterschiedlich.

1984 musste die tamilische Familie aus Sri Lanka vor dem Bürgerkrieg fliehen; Senthuran war gerade geboren, Sinthujan kommt 1985 in einem Asylbewerberheim in Bayern zur Welt. Die beiden haben noch einen älteren Bruder. Das Familienleben ist geprägt von dem Wunsch der Eltern, in ihre Heimat zurückzukehren und dem Bewusstsein der Kinder, anders zu sein, erinnert sich Senthuran Varatharajah:

„Wir sind in Bayern groß geworden, in der Nähe von Bamberg. In dieser Stadt waren wir nicht vorgesehen. Wir waren in einer Art ein Fehler und zudem ein sichtbarer Fehler. Ein Fehler, dem man auf der Straße begegnen konnte, den man ansprechen konnte, anschreien und anspucken konnte. Und die Frage ist dann: Wie können wir eine Ordnung für uns finden, in der wir nicht unbedingt einen Platz haben, aber vielleicht uns einen Platz vorstellen können.“

Leben in einer permanenten Aufbruchsstimmung

Sinthujan ergänzt: „Bei uns gab es immer eine permanente Aufbruchsstimmung: Die war zum einen getrieben, von dem Wunsch, zurückkehren zu wollen. Zum anderen von der Angst, hier zu leben. Nach der Wiedervereinigung gab es Solingen, Rostock-Lichtenhagen, Mölln; und diese ganzen Anschläge und Pogrome haben uns auch geprägt. Das heißt: Wir waren eigentlich immer mental gefasst, zu gehen.“

Sie bleiben, Senthuran studiert Theologie und Philosophie, doch er wird nicht – wie sein erster Berufswunsch war – Pfarrer. Er entdeckt das Schreiben, auch, weil er merkt, wie stark die Traumata der Eltern in den Kindern weiterleben. „Ich habe, je älter ich wurde, einfach gemerkt, dass mich diese Themen einholen. Ich habe mich nie als Tamile bezeichnet; und auch heute würde ich diese Identitätszuschreibung am liebsten verweigern. Aber wenn ich es dann doch mache, ist es ein politisches Bekenntnis zu den vielen tamilischen Menschen, die im Krieg gestorben sind. Ein Zeichen der Solidarität, ein Zeichen der Trauer.“

Sein erster Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ ist in einer Art Facebook-Chat geschrieben. Die Social Media seien gerade für Menschen in der Diaspora eine Möglichkeit zusammenzukommen, zu kommunizieren, politisch zu intervenieren, so der Schriftsteller.

Ein Dejà-vu in den heutigen Flüchtlingsheimen

Sinthujan Varatarajah hat politische Geographie studiert; er erforscht unter anderem die Situation in Heimen für Asylbewerber. Als politischer Berater bei der Organisation Open Society Foundation kümmert er sich um Fragen von Migration und Stadtpolitik.

Für seine Doktorarbeit besucht er auch Flüchtlingsheime und erlebt, dass die Geflüchteten einerseits erstaunt sind, jemanden wie ihn dort zu treffen. Aber auch für ihn selbst ist es ein ambivalentes Gefühl. „Eine Art von Vorbildfunktion, die dir quasi aufgezwungen wird: Dass die Menschen sich zum einen nicht vorstellen können, dass eine Person, die so aussieht wie sie, hier die Staatsbürgerschaft hat, hier verankert ist, hier eine Zukunft hat, hier Berufe ausübt, die sie sich gar nicht vorstellen können. Und gleichzeitig ist für uns auch so eine Art von Trauer dabei, zu sehen, dass die Menschen hier noch so leben müssen, wie wir damals.“

Hören/Quelle: https://www.deutschlandfunkkultur.de/senthuran-und-sinthujan-varatharajah-arbeiten-mit-der.970.de.html?dram:article_id=449343 


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(Deutschlandfunk Kultur, Fazit, 22.03.2016)

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