Sie übersetzt auch im Gebärsaal

Einen Vormittag pro Woche berät Nanthini Murugaverl Menschen auf Tamilisch. Mit dem Pilotprojekt «Infotime» sollen Beratungen in der Muttersprache etabliert werden.

Früher gab es keinen bestimmten Ort, keine bestimmte Zeit. Hatten die Leute Fragen, stellten sie diese Nanthini Murugaverl in der Migros, im Tempel, auf der Strasse. Manche klingelten direkt an ihrer Wohnungstür, besonders nach dem Mittag. «Sie wussten, dass ich dann zu Hause bin – wegen meiner Kinder», sagt Murugaverl.

Jetzt ist der Ort das Café Mondial, die Zeit dienstags von 9 bis 11 Uhr. Nanthini Murugaverl, hier nicht mehr private Freundin, sondern interkulturelle Übersetzerin, öffnet die Tür zum Zimmer hinter der kleinen Küche und bittet Sriragunathan Sellasamy und Anirajitha Sriragunathan herein. Seit sie Murugaverl an der tamilischen Valluvan-Schule im Tscharnergut kennen gelernt haben, wo ihre Kinder Tamilisch lernen und Murugaverls Mann Leiter ist, kommen sie jeden Dienstag bei «Infotime» vorbei.

Das Pilotprojekt für Beratungen auf Tamilisch, aber auch auf Tigrinya und Amharisch, Albanisch und Arabisch, läuft seit September. Das Paar, das heute bei Murugaverl ist, wohnt gleich neben dem Café Mondial in Bethlehem. Allerdings erst seit zwei Jahren, vorher lebte die Familie in Jaffna, Sri Lanka. Auch die 49-jährige Murugaverl flüchtete aus dem Norden Sri Lankas nach Bern, bei ihr liegt das 19 Jahre zurück. «Ich weiss, wie es ist, neu in der Schweiz zu sein.»

Für Tagesschule anmelden

Heute haben Sellasamy und Sriragunathan drei Couverts dabei. Aus dem ersten nimmt der Ehemann ein Anmeldeformular. Die Eltern wollen ihr jüngeres Kind auch nach den Sommerferien in die Tagesschule schicken. Nanthini Murugaverl setzt die Lesebrille auf, geht das Papier durch. Sie macht für die beiden verständlich, was unklar ist, übersetzt von Deutsch auf Tamilisch.

Wenn Murugaverl selber erzählt, statt sich die Geschichten anderer anzuhören, dann spricht sie schnell und viel, hat immer wieder Beispiele im Kopf. Da ist etwa die ältere Frau mit F-Ausweis, die nach zehn Jahren endlich einen B-Ausweis möchte und nun einen Deutschkurs besucht. Oder die schwangere Frau, die Murugaverl während der Geburt im Gebärsaal begleitete.

Die zwei Ordner, die vor Murugaverl liegen, dokumentieren jede dieser Geschichten. Jeden Dienstag kommen neue Dokumente hinzu. Bei vielen geht es um die Krankenkasse oder die AHV, um die Steuererklärung oder die IV. Aber auch um Familienprobleme oder Fragen rund um den Lehrplan 21.

220 Beratungen fanden bis im Mai statt. Ein Drittel der Leute wohnt ausserhalb von Bethlehem und Bümpliz. Projektleiter Qazim Hajzeraj vom Trägerverein für die offene Jugendarbeit (TOJ) schliesst daraus, dass der Beratungsbedarf über die Quartiersgrenzen hinaus besteht. Auch würde er das Angebot gerne durch andere Sprachen, wie Serbokroatisch, Kurdisch oder Vietnamesisch, ergänzen. Neben dem TOJ sind die reformierten Kirchen Bümpliz und Bethlehem sowie die Vereinigung Berner Gemeinwesenarbeit die Trägerorganisationen. Finanziert wird das Projekt von Kirchen, Stiftungen und Fonds.

Sozialarbeiterin an der Seite

Auf einmal spricht Nanthini Murugaverl nicht mehr von «Infotime». Sie erzählt von einem Kurs der Kirche über Alltagswissen, den sie leitet, von einer Tischrunde für Frauen, die sie moderiert, und von einem Treffen für ältere Migrantinnen und Migranten, das sie organisiert. «Wenn sie etwas brauchen, kommen diese Leute zu mir. Sie haben grosses Vertrauen in mich.» Weil Murugaverl Tamilisch spricht, weil sie im Quartier lebt. Wenn sie allein nicht weiterhelfen kann, dann vermittelt sie die Menschen mithilfe einer Sozialarbeiterin an Fachstellen.

Während Murugaverl mit Sellasamy und Sriragunathan den zweiten Brief durchgeht, sitzt im Café vorne bereits eine junge Frau und telefoniert. Einen Tisch weiter schweigen zwei Männer. Sie warten auf Nanthini Murugaverl. Wenn nötig, bleibt sie heute bis 12 Uhr.

Quelle: Berner Zeitung

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