Das Flüchtlingsmädchen, das seinen Traum erkämpfte
LützelflühVor 26 Jahren kam Silvia Thuraisingam als erstes tamilisches Flüchtlingskind in Burgdorf zur Welt. Heute arbeitet sie an just jenem Spital als Assistenzärztin. Dies, obwohl sie die Kleinklasse hätte besuchen sollen.
Es war der 12. Juli 1988: An jenem Tag kam Silvia Thuraisingam im Spital Burgdorf auf die Welt. Obwohl es niemand mit absoluter Sicherheit bestätigen kann, so ist doch davon auszugehen, dass sie das erste tamilische Flüchtlingsmädchen war, das im Spital Emmental das Licht der Welt erblickte.
Vor über 30 Jahren verliessen ihre Eltern Sandra und Selvam Thuraisingam Sri Lanka und reisten als politische Flüchtlinge in die Schweiz. 1988 wurde Silvia, drei Jahre später ihre Schwester Nadja, die heute Betriebsökonomie studiert, geboren. Damals wohnte die vierköpfige Familie in Grünenmatt. Dort besuchte Silvia auch die Primarschule.
Die Erinnerung daran ist ihr bis heute geblieben: «Als ich in der zweiten Klasse war, fand kurz vor Weihnachten ein Elterngespräch statt.» Die Lehrerin empfahl einen Wechsel in die Kleinklasse. Der Zufall wollte es, dass die Familie von Grünenmatt nach Lützelflüh zügelte, wo sie heute noch wohnt.
Ein Meilenstein in Silvias Leben, wie sich später herausstellte. Dank der Unterstützung ihrer neuen Lehrerin im Gotthelf-Dorf konnte das Mädchen weiterhin die reguläre Primarschule besuchen. «Ihr habe ich viel zu verdanken.» Die Lehrerin habe festgestellt, dass nicht eine Lernschwäche der Grund für die schlechten schulischen Leistungen war, sondern fehlende Deutschkenntnisse.
Und von da an gings steil bergauf. «Sie hat mich gefördert, indem mich sie oft abfragte, obwohl sie wusste, dass ich mich auf Deutsch schlecht artikulieren konnte.» Doch nicht nur Silvia Thuraisingam erinnert sich gut an die Schulzeit in der zweiten Klasse, auch ihre damalige Lehrerin Maya Widmer-Schläppi weiss: «Silvia war eine Kämpferin.»
Ihre fröhliche Art habe ansteckend gewirkt, zudem sei sie in der Klasse gut integriert gewesen. Ebenfalls im Gedächtnis geblieben ist der Lehrerin das grosse Engagement des Vaters Selvam Thuraisingam, der heute in Burgdorf das Transportunternehmen Selvam GmbH betreibt. «Er schaute regelmässig in der Schule vorbei und hat nachgefragt, wie er Silvia unterstützen könne.»
Sie lernte mit Eselsbrücken
«Ja, ich bin eine Kämpferin», bestätigt die Assistenzärztin die Aussage ihrer ehemaligen Lehrerin. Habe sie in der Schule wegen der fehlenden Deutschkenntnisse den Lernstoff nicht verstanden, so habe sie nicht lockergelassen, bis sie es begriffen habe. Dabei halfen ihr oft Eselsbrücken. «Mutter heisst auf Tamilisch Amma. Also habe ich mir gemerkt: Mama hat auch zwei M und zwei A», nennt sie ein Beispiel.
Bald schon beherrschte das Mädchen die deutsche Sprache, und nach der obligatorischen Zeit in der Primarschule schaffte sie den Übertritt in die Sekundarschule und besuchte danach das Gymnasium in Burgdorf. 2007 schrieb sie ihre Maturaarbeit über die hinduistisch-tamilische Hochzeit im Emmental und gewann den Maturandenpreis der Burgergemeinde Burgdorf.
Leistete Hilfe nach Tsunami
Dass sich die Lützelflüherin für ein Medizinstudium entschied, ist auf ein trauriges Ereignis zurückzuführen: Nachdem im Dezember 2004 der Tsunami Tod und Verwüstung über Indonesien, Thailand, Indien und Sri Lanka gebracht hatte, flog sie als knapp 16-Jährige für sechs Wochen ins Heimatland ihrer Eltern. Während ihres Aufenthalts unterstützte sie ihren Cousin, der als Arzt arbeitete. Die ursprüngliche Idee, nach der Matura Psychologie zu studieren, änderte sich in diesem Moment. «Mir wurde klar: Ich will Menschenleben retten.»
Möchte Hausärztin werden
Erfolgreich absolvierte Silvia Thuraisingams im Eiltempo ihr Medizinstudium an der Universität Bern. Während ihrer Zeit an der Universität lernte sie ihren heutigen Lebenspartner Rajeevan Linganathan kennen, welcher Jura studierte. Dass die junge Frau für ihre Assistenzzeit gerade das Spital Emmental in Burgdorf auswählte, hat jedoch nichts mit dem Arbeitsweg oder ihrem Geburtsort zu tun, sondern ist auf Sympathie und die positiven Erfahrungen während ihres Praktikums dort zurückzuführen.
Seit rund drei Monaten arbeitet sie nun bereits auf der medizinischen Abteilung im Spital; zwei Jahre wird ihre Assistenzzeit in der Emmestadt noch dauern. Später möchte sie als Hausärztin den Menschen helfen. «Ich habe gemerkt, dass gerade ältere Tamilen froh sind, sich in ihrer Landessprache verständigen zu können», erklärt Silvia Thuraisingam, die selber akzentfrei Berndeutsch spricht.
Die Arbeit im Spital entspreche ganz ihren Vorstellungen, «ich fühle mich wohl und bin froh, hier arbeiten zu dürfen.» Auch dass sie in der Schweiz leben könne, sei für sie ein Geschenk. «Meine Familie und ich haben dem Land viel zu verdanken. Wären meine Eltern in Sri Lanka geblieben, hätte ich allenfalls meinen Traum nicht verwirklichen können.» (Berner Zeitung)
source: http://www.bernerzeitung.ch/region/emmental-oberaargau/Das-Fluechtlingsmaedchen-das-seinen-Traum-erkaempfte/story/11285233