Die tamilisch-nigerianische Autorin Akwaeke Emezi verarbeitet in „Süßwasser“ ihr Leben mit einer multiplen Persönlichkeit.

„Süßwasser“ von Akwaeke Emezi Die Geister, die sie riefen – von GIACOMO MAIHOFER
Ein wilder und berührender Roman: Die tamilisch-nigerianische Autorin Akwaeke Emezi verarbeitet in „Süßwasser“ ihr Leben mit einer multiplen Persönlichkeit.
FOTO: © ELIZABETH WIRIJA

Die Igbo nennen sie Ogbanje, Kinder, die kommen und gehen. Die nigerianische Ethnie glaubt, dass böse Geister sich der Psyche von Neugeborenen bemächtigen können. So entstehe ein bösartiger Kreislauf. Die Dämonen treiben Menschen in den Wahnsinn und letztlich in den frühen Tod. Wenn sie sterben, werden sie im nächsten Säugling derselben Mutter wiedergeboren.

Chinua Achebe schrieb einst ein ganzes Buch über „Die Welt der Ogbanje“. Die tamilisch-nigerianische, in New York lebende Autorin Akwaeke Emezi webt in ihrem Debütroman „Süßwasser“ aus dem Stoff ein dunkles, von ihrer Lebensgeschichte inspiriertes Märchen. Ada wächst im Süden Nigerias auf, als Kind einer zerbrochenen Medizinerfamilie. Der Nachbarsjunge misshandelt sie. Die Eltern überlassen sie ihrer Fantasie. Doch all das erzählt nicht Ada, sondern die Geister in ihrem Kopf: „Sie suchte nach uns, weil sie nach irgendjemandem suchte, weil sie von einer Leere verfolgt wurde, grau und bösartig, kalt wie Kreide.“

Zuerst sprechen sie als undefiniertes Wir, später entwickeln sie eigene Persönlichkeiten. Asughara, das lüsterne „Biestselbst“, die „Klinge, die unentwegt mit der Weichheit menschlicher Hälse flirtete“; Saint Vincent, der sanfte Heilige, ein Geheimnis begraben in ihren Träumen. Ada, die zum Studium in die USA auswandert, erlebt man bis zum Ende vor allem als Gefäß ihrer Projektionen.

Mystisches und Wirkliches kreisen in düsterer Metaphorik umeinander

Emezi taucht das Rätsel der multiplen Persönlichkeit in das geheimnisvolle Licht eines magischen Realismus. Geister erwachen in Ada als „geschwollene Welten mit Wolken als Iris“. Stimmen gerinnen zu „Lachen aus Blut mit einer sich bildenden Haut darauf“. Körper und Seele, Mystisches und Wirkliches kreisen in düsterer Metaphorik umeinander.

Asughara, die den größten Teil des autobiografischen Romans erzählt, bemächtigt sich Adas Körper, um ihre Begierden zu befriedigen. Sie stürzt die Heranwachsende in sexuelle Begegnungen und Drogeneskapaden, zerstört ihre romantischen Beziehungen. Gleichzeitig entwickelt sich eine sensible Freundschaft zwischen dem Geist und dem Mädchen. Asughara, die Zerstörerin, bietet Ada Schutz. Nicht zuletzt vor den eigenen Erinnerungen. Ada recherchiert ihre Symptome, versucht eine Therapie, weist sich in die Psychiatrie ein – vergeblich.

Die verdrängte Kultur muss wieder bewusst werden

Letztlich läuft ihre Leidensgeschichte auf ein altes postkoloniales Motiv hinaus: Die verdrängte eigene Kultur muss wieder bewusst werden. Erst als Ada sich im Mythos der Ogbanje erkennt, erlangt sie Kontrolle über ihr seltsames Dasein. So wie es bei Emezi selbst war. Die 32-Jährige berichtet in Interviews, die Entdeckung des Ogbanje-Mythos in den Erzählungen nigerianischer Historiker habe ihrem psychischen Leiden Sinn gegeben. „Süßwasser“ ist ein wilder und berührender Roman über die menschliche Fantasie, ihre grausame Macht und heilende Kraft.

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