Erst Papierloser, jetzt Politiker
«Ich habe so viel mit dem Tod zu tun – und zu tun gehabt–, ich weiss das Leben zu schätzen»: Jeyakumar Thurairajah sitzt neu für die Grünen im St. Galler Stadtparlament. (Bild: Urs Bucher)
Jeyakumar Thurairajah ist 1988 in die Schweiz geflüchtet. Hier arbeitete er sich vom Tellerwäscher zum Teamleiter hoch, läuft Halbmarathons und sitzt neu für die Grünen im Parlament. Der Tamile über Politik, Integration und seine Flucht.
MALOLO KESSLER
ST.GALLEN. Er hatte noch nicht einmal einen Schnauz. Und er hatte Angst. Jeyakumar Thurairajah war 13 Jahre alt, als er zum ersten Mal flüchten musste, seine Familie verliess. Es war 1983, in Sri Lanka hatte gerade der Bürgerkrieg begonnen. Schüler in Thurairajahs Alter wurden als potenzielle Kämpfer eingezogen, bedroht, gefoltert. «Fünf Jahre lang war ich im Land auf der Flucht, oft obdachlos. Dann konnte ich schliesslich in die Schweiz», erzählt Thurairajah, heute 46 Jahre alt. Der Tamile sitzt am Esstisch seiner Wohnung im Heiligkreuz. Überall hängen Bilder seiner Familie, brennen Teelichter, stehen Blumen. Seit 1988 lebt Thurairajah nun in St. Gallen, seit er als papierloser Asylbewerber der Stadt zugeteilt wurde. Hier arbeitete er sich vom Tellerwäscher zum Teamleiter hoch. Und zum Stadtparlamentarier: Er ersetzt die zurückgetretene Cécile Federer, Anfang Mai ist seine erste Parlamentssitzung.
Einsatz für Betagte
In Sri Lanka habe er die Schule bis zum 10. Schuljahr besucht. In der Schweiz arbeitete er tagsüber erst als Tellerwäscher, dann als Putzmann, als Hilfspfleger, als Pflegeassistent, schliesslich als Pflegefachmann. Abends besuchte er Deutschkurse. Heute ist Thurairajah Pflegefachmann im Betagtenheim Halden. Und Schweizer Bürger. «Politik hat mich schon immer interessiert. Wenn man aus dem korrupten Sri Lanka in die Schweiz kommt, geniesst man die Demokratie hier», sagt Thurairajah.
Am Antirassismus-Treff, einer Veranstaltung für interkulturellen Austausch, lernte er die ehemalige grüne Nationalrätin Pia Hollenstein und andere Grüne kennen. «Sobald ich Schweizer Bürger war, haben sie mich gefragt, ob ich nicht Mitglied werden will. Und so bin ich schliesslich im Parlament gelandet.»
Dem Tamilen ist es wichtig, sich für Ältere einzusetzen. «Die Menschen, die heute betagt sind, haben die Schweiz damals so aufgebaut, dass Flüchtlinge wie ich hierher kommen konnten», sagt er. Er wolle etwas zurückgeben. Und er will sich auch in Integrationsfragen engagieren. «Nicht nur als Migrant, sondern als Bürger fühle ich mich verpflichtet, zu zeigen, dass es möglich ist, in der Schweiz etwas zu erreichen.» Integration finde zu wenig statt, obschon das St. Galler Amt für Migration viel mache. «Viele Migranten nutzen das nicht, viele Schweizer wiederum sind nicht offen und auch unter verschiedenen Migrantengruppen sollte mehr passieren.»
Netzwerker und Läufer
So leise, so sanft, so zurückhaltend Thurairajah spricht, seine Engagements zeugen von Eifer, von einem langen Atem. Er rennt regelmässig Halbmarathons, ist Jugileiter im Turnverein TVO. Er ist im Tamilischen Kulturverein, im tamilischen Volksrat, nebenberuflich Dolmetscher und hat «Nalavalu» aufgebaut, ein schweizweites Netzwerk für Tamilische Fachpersonen im Gesundheitswesen, das viermal im Jahr ein Magazin publiziert und mit dem Bundesamt für Gesundheit zusammenarbeitet.
Ziel: Einen Bachelor in Pflege
Seit 1999 ist der Neu-Parlamentarier verheiratet. Mit seiner Frau hat er zwei Kinder, die Tochter besucht die Kantonsschule und der Sohn die vierte Klasse. Und auch er selbst will bald wieder in die Schule: An der FHS möchte er den Pflege-Bachelor machen, sobald er genug Geld für ein Studium hat. «Je mehr man studiert hat, desto mehr Möglichkeiten hat man.»
Wiedersehen nach 17 Jahren
Thurairajah sagt, er habe so viel mit dem Tod zu tun – und zu tun gehabt –, dass er es zu schätzen wisse, was das Leben bedeute. Jaffna, seine Heimatstadt, hat er nie mehr besucht. Obwohl er das mit dem Schweizer Pass könnte. «Aber es ist zu gefährlich.» Sein Vater ist 1995 gestorben, er war ebenfalls auf der Flucht. Thurairajahs Geschwister leben in London, Dänemark und Schweden. Eine Schwester wohnt mit der Mutter in Colombo, der Hauptstadt Sri Lankas. Alle fünf Jahre treffen sie sich in Südindien. Das erste Mal aber erst 17 Jahre nach Thurairajahs Flucht, er war 30. «Das war ein unglaublicher Moment für alle, vor allem für meine Mutter. Als ich ging, war ich ein kleiner Bub.» Und dann sei er als Erwachsener wiedergekommen, mit Frau, mit Kind. Und Schnauz.
source: http://www.tagblatt.ch/ostschweiz/stgallen/stadtstgallen/tb-st/Erst-Papierloser-jetzt-Politiker;art186,4596746