Rauriser Literaturpreis: „Sie zeigten mit ihren Fingern auf mich“
Senthil schreibt Valmira auf Facebook an, und daraus entwickelt sich ein Chat-Dialog, in dem sie sich einander öffnen und Vertraulichkeiten aus dem Leben von Flüchtlingskindern preisgeben. Nur jemand, der selbst aus einem Bürgerkriegsland kommt, versteht, was es bedeutet, von den Eltern von einem Tag auf den anderen in eine andere Kultur verfrachtet zu werden, wo einen die, die immer schon da waren, mit Misstrauen begegnen.
Für seinen Roman „Vor der Zunahme der Zeichen“ wird Senthuran Varatharajah heute, Mittwoch, der Rauriser Literaturtage mit dem Rauriser Literaturpreis ausgezeichnet. Der Autor, geboren 1984, kam als Baby nach Deutschland, nachdem seine Eltern vor der singalesischen Armee, die das Abschlachten von Tamilen als ihre wichtigste Aufgabe sah, geflüchtet war. Für sein Prosadebüt erhielt er 2017 auch den Adalbert-von-Chamisso-Förderpreis.
Wie die beiden Protagonisten des Romans miteinander umgehen, entbehrt jeder Flirt-Absicht, weil im Anderen einer gesucht wird, der aus eigenem Erleben mitbekommen hat, wie es sich anfühlt, durch die Schule von Flucht, Asyl und ungewisser Ankunft gegangen zu sein. „Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle. Aber ich erzähle es dir“, schreibt Valmira einmal. Sie berichtet von einer Szene in New York, die ihr merkwürdig vorkommt und von der sie annimmt, dass sie auch Senthil überraschen wird. Einem Deutschen würde sie damit gewiss nicht kommen, gehört für den Weltgewandtheit doch zum Lebensprinzip. Valmira hat sich das Staunen auch über den Alltag noch nicht abgewöhnt. Das hängt mit ihrer Wahrnehmung zusammen, die ihr klar macht, dass sie eine ist, die nicht dazugehört.
Sie sind die, die von außen kommen und das auch spüren.Senthuran Varatharajah, und das ist eine besondere Stärke, entwickelt daraus kein Leidensdrama. Sein Mittel, mit der Familiengeschichte, die mit dem Schrecken von Gewalt und Vertreibung eine enge Beziehung eingegangen ist, fertig zu werden, ist die Reflexion. Das ist kein Buch, das auf Empathie setzt und das uns eine Anleitung zum Bedauern der armen Flüchtlinge mitgibt. Die beiden haben sich die deutsche Sprache als Instrument zum Verstehen angeeignet. Das wirkt sich unmittelbar auf den Satzbau aus. Mit der im Chatraum üblichen Kürzelsprache kommen sie nicht durch, um ihre Lage zu beschreiben. Sie bauen langsam mäandernde Konstruktionen auf, entwickeln eine Denksprache, um dem gefühlsbelasteten Erleben die Vernunft eines klaren Verstandes engegen zu setzen.
Es ist wichtig, in einer Zeit der rüpelhaften Politik der Schlagworte vom Typus Trump, Erdogan und Duterte ein neues Feingefühl für die Schönheit, Klarheit und Vielfalt der Sprache zu entwickeln. Bei Senthuran Varatharajah bekommt die Sprache schon deshalb eine derart mächtige Bedeutung, weil sie auch den Unterschied der Generationen markiert. Senthil ist drauf und dran, sein Tamilisch zu verlernen. Die Eltern hängen daran, bewahren sie sich darin doch einen Ort, der ihre Vergangenheit speichert.
So entsteht eine Kluft zwischen den Älteren und den Jungen, die nicht zu schließen ist und Fremdheit entstehen lässt.
Der Autor, geboren 1984, kam als Baby nach Deutschland, nachdem seine Eltern vor der singalesischen Armee, die das Abschlachten von Tamilen als ihre wichtigste Aufgabe sah, geflüchtet war.
Buch: Senthuran Varatharajah: Vor der Zunahme der Zeichen. Roman. 250 S., S. Fischer, Frankfurt a. M. 2017.
47. Rauriser Literaturtage:
Um „Körper.Sprache“ dreht sich bei den 47. Rauriser Literaturtagen Vieles. In einem Zeitalter, in dem der Körper mehr als je zuvor ins Zentrum der Aufmerksamkeit rücke, stelle sich auch die Frage, welche Sprache die Literatur finde, um von körperlichen Vorgängen und Zuständen zu erzählen, erläutern die Organisatoren Manfred Mittermayer und Ines Schütz im Programm. Eröffnet wird die 47. Ausgabe am heutigen Mittwoch mit der Vergabe der Literaturpreise.
Förderungspreis:
Neben dem Literaturpreis wird in Rauris heute, Mittwoch auch der Förderungspreis 2017 übergeben. Gefragt waren Einreichungen zum Thema „Unter die Haut“. Ausgezeichnet wird die 1995 geborene Autorin Mercedes Spannagel für ihre Kurzgeschichte „Wie es klingt, wenn es quietscht“.